Stadtteilbasisbewegung: Die Konstruktion einer Alternative

„Was eine Bewegung antikapitalistisch macht, ist nicht immer das Thema, um das sie mobilisiert. Wichtiger ist, ob sie in der Lage ist, ein breites Spektrum der Massen anzuziehen und deren Selbstorganisation zu ermöglichen, um eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Menschen sich selbst regieren und ihr eigenes Leben kontrollieren, eine Möglichkeit, die durch den Kapitalismus grundlegend blockiert wird.“ (Asad Haider)1

Einleitung

Etwa sechs Jahre ist die neu entflammte Strategiedebatte innerhalb der radikalen Linken um eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik nun alt. Unzählige Strategiepapiere wurden seither veröffentlicht2, die Debatte um eine „Neue Klassenpolitik“ wurde aufgenommen und mit dem „Selber-Machen-Kongress“ und dem „Kongress der Kommunen“ fanden diese Diskussionen und Gruppen auch ganz real zusammen. Gleichzeitig spiegelte sich die Debatte (wenn auch weitaus weniger) in einer sich verändernden Praxis wider.

Gruppen versuchten ihre bestehende Praxis zu erweitern oder anders auszurichten. Andere Gruppen gründeten sich durch den Impuls der Debatten neu, mit dem Vorhaben, die theoretischen und strategischen Überlegungen in eine neue Praxis umzusetzen. Viele Gruppen bezogen und beziehen sich dabei direkt oder indirekt auf das Konzept der (revolutionären) Basisarbeit. Eine konkrete Definition oder Vorstellung dessen, was wir genau unter revolutionärer Basisarbeit verstehen bzw. welche Voraussetzungen sie erfüllen muss, um revolutionär zu sein, blieb jedoch weitgehend ungeklärt und undiskutiert.

Der vorliegende Text ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von zwei dieser neu gegründeten Gruppen, Solidarisch in Gröpelingen (SiG)3 aus Bremen und Berg Fidel Solidarisch (BFS)4 aus Münster. Wir haben uns 2017 und 2018 gegründet und sind seitdem dabei eine Praxis zu entwickeln, die wir als revolutionäre Stadtteilarbeit bezeichnen. Wir verstehen die von uns gegründeten Projekte als Teil der kollektiven Suchbewegung nach einem passenden Modell der revolutionären Stadtteilarbeit für den Kontext der bundesdeutschen Verhältnisse.

Unser Ziel ist es, mit dem vorliegenden Text die öffentliche, meist eher theoretisch geführte Debatte über neue Klassenpolitik und Neuausrichtung linksradikaler Politik um konkrete Analysen und Rückschlüsse der jeweiligen praktischen Erfahrungen der letzten Jahre zu erweitern und so einen Erfahrungsaustausch über einzelne Gruppen/Zusammenhänge hinweg anzustossen. Wir richten uns dabei insbesondere an Gruppen, die ebenfalls Erfahrungen in Stadtteilarbeit gemacht haben oder Gruppen, die sich von dem Konzept der revolutionären Stadtteilarbeit angesprochen fühlen und vorhaben damit zu beginnen.

Der Text beinhaltet sowohl eine kritische Reflexion unserer bisherigen Erfahrungen und Arbeit, als auch Rückschlüsse, die wir daraus insbesondere in Bezug auf die Konkretisierung des Konzeptes der revolutionären Basisarbeit gezogen haben. Konkret soll er einen Beitrag für die Ergänzung und Erweiterung des Ansatzes bzw. der Theorie der Stadtteilbasisorganisierung leisten. Gleichzeitig sind die folgenden Überlegungen keine in Stein gemeisselten Leitlinien, sondern vielmehr eine Zusammenfassung aktueller Diskussionen und Überlegungen und wie so vieles, work in progress. Wir freuen uns deshalb auf Erfahrungsberichte bzw. Auswertungen von anderen Gruppen oder Rückmeldungen zu unserem Text – sei es öffentlich oder durch direkten Kontakt zu uns.

Kritische Reflexion unserer bisherigen Erfahrungen: Neuausrichtung und ihre Lücken

Ausgangspunkt der Diskussionen und der (Wieder-)Aneignung revolutionärer Basisarbeit als Praxis war die (Selbst-)Kritik an einer radikalen Linken, die sich weitgehend auf Szenepolitik und Subkultur fokussiert, vorwiegend Diskurspolitik betreibt und sich in Teilbereichskämpfen verliert, ohne dabei über eine revolutionäre, gesamtgesellschaftliche Perspektive zu verfügen, geschweige denn über Strategien, wie diese erreicht werden könnte. Ausgangspunkt dieser (Selbst-)Kritik war und ist dabei die Hoffnung und die Überzeugung, dass revolutionäre Veränderung auch in der BRD möglich ist bzw. es ein Potenzial dafür in der Gesellschaft gibt, welches wir mit einer entsprechenden Praxis aufgreifen und stärken können.

Im Fokus der Debatte stand die Frage, wie linksradikale Politik ausserhalb der Szene und ausserhalb bürgerlicher Diskurse im Alltag derjenigen Menschen eine Relevanz entwickeln kann, die am meisten unter den Folgen des kapitalistischen Systems zu leiden haben. Die theoretischen Überlegungen waren zudem auf eine gesamtgesellschaftliche Perspektive gerichtet: Wie können wir, ausgehend von Organisierungsprozessen an der Basis, das „grosse Ganze“ verändern. Neben einer (vermeintlichen) Lösung für das Problem der Trennung zwischen Linksradikalen und Gesellschaft sollte die Methode der revolutionären Basisarbeit also vor allem eines sein: eine Methode um Macht von unten aufzubauen und gesamtgesellschaftlichen Wandel voranzutreiben.

Wir sind davon überzeugt, dass viele Aktivist:innen aus den unterschiedlichen Basisprojekten die Perspektive nach gesamtgesellschaftlicher Veränderung teilen, sich diese in unseren grösstenteils lokal begrenzten Strukturen aber bislang nicht widerspiegeln kann. Unsere Ausgangsthese für die Überlegungen im vorliegenden Text ist, dass bei der bisherigen Ausgestaltung der Projekte revolutionärer Basisarbeit der Aspekt der gesamtgesellschaftlichen Veränderung in der Praxis verloren gegangen bzw. stark in den Hintergrund gerückt ist. Unserer Ansicht nach gibt es hierfür v.a. zwei Gründe, die wir weiter unten konkretisieren.

Erstens wurde Basisarbeit durch eine starke Fokussierung auf Diskurspolitik, Kommunikation und das Führen einzelner sozialer Kämpfe bei Vernachlässigung des Organisierungsaspektes letztlich zum Ziel an sich bzw. zum Selbstzweck gemacht. Basisarbeit scheint zu bedeuten, Haustürgespräche zu führen, im Stadtteil zu plakatieren oder Flyer zu verteilen und mit Nachbar:innen zu sprechen. Dabei wird Basisarbeit von der Frage der Organisierung getrennt. Der Aufbau über einzelne Kämpfe hinausgehender kontinuierlicher Organisierungsstrukturen spielt entweder keine Rolle oder spiegelt sich in der Ausrichtung und Konzeption der Praxis nicht ausreichend wider. Das zeigt sich auch im Umgang mit sozialen Kämpfe in der häufig auf einzelne soziale Kämpfe fokussiert und sich (implizit) auf die Spontanität von Mobilisierungen verlassen wird.

Zweitens ist die Perspektive einer Organisierung auf überregionaler Ebene aus dem Blick verloren gegangen oder von Anfang an nicht als Ziel der Praxis mitgedacht worden. So haben sich viele Initiativen auf die lokale Ebene „zurückgezogen“, um zuerst die eigene Praxis auf- und auszubauen. Es schien, als wäre eine überregionale Organisierung verfrüht, als müssten wir erst beweisen, dass die Praxis überhaupt funktioniert. Eine überregionale Perspektive spielte wenn überhaupt nur in Form von Praxis-Austausch oder Vernetzung der linksradikalen Aktivist:innen eine Rolle, nicht aber im Sinne einer organischen Verbindung der einzelnen lokalen Initiativen.

Eine solche eigenständige Organisierung der Basisgruppen oder Stadtteilprojekte in einer überregionalen Struktur wurde nicht als eine zentrale Säule im Aufbau revolutionärer Stadtteilarbeit betrachtet, sondern als etwas zusätzliches, das höchstens dann erst Sinn macht, wenn lokale Erfolge vorzuweisen sind. Insofern fokussierten wir uns die letzten Jahre – wie viele andere Projekte – darauf, im Stadtteil eine Basis aufzubauen. Das führte jedoch dazu, dass die Strukturen und Projekte, die sich entwickelten, kaum bzw. keine bewussten Parallelitäten zueinander aufweisen und in ihrer Form nicht auf eine gemeinsame Organisierung oder Vergrösserung angelegt sind.

So ist eine Tendenz entstanden, mit der wir, einerseits auf einer bestimmten Ebene des Ansatzes von Basisarbeit stehenbleiben, und bei der andererseits Gruppen, die sich neu gründen, ohne klare strategische Perspektiven immer wieder bei Null beginnen müssen. Wir müssen uns daher bewusst die Frage stellen, wie wir aus einer solchen Sackgasse heraukommen und eine Perspektive eröffnen können, die es uns ermöglicht, unsere bisherigen Bemühungen zu einer tatsächlichen revolutionären Bewegung5 weiterzuentwickeln.

Eine Voraussetzung dafür ist unserer Ansicht nach, dass wir den genannten Ansatz von Basisarbeit erweitern und die gesamtgesellschaftliche Perspektive stärken.

Von den Erfahrungen der Praxis zur Theorie der Stadtteilbasisorganisierung

„Auch heute sind wir noch immer gefordert, unzufrieden zu sein. Lasst uns unzufrieden sein, bis jeder Mensch Nahrung und materielle Güter für seinen Körper, Kultur und Bildung für seinen Geist, Freiheit und menschliche Würde für seine Seele haben kann […]“ (Martin Luther King)6

Wir blicken mittlerweile auf vier Jahre Praxis im Stadtteil zurück. Wir haben zahlreiche Befragungen und aktivierende Gespräche geführt, wir haben von der Wut der Menschen über die bestehenden Verhältnisse erfahren, auch von der Bereitschaft, sich gegen bestimmte Probleme zu organisieren. Wir haben Räume geöffnet, in denen Menschen zusammenkommen können, um sich über ihre alltäglichen Probleme auszutauschen, nicht mehr alleine damit zu bleiben und eine solidarische Kultur zu leben. Wir haben einzelne Nachbar:innen zu Treffen eingeladen, um sich über Möglichkeiten des Widerstandes auszutauschen, wir haben grosse und kraftvolle Versammlungen organisiert.

Wir sind gemeinsam mit den Nachbar:innen auf die Strasse gegangen, um auf Missstände aufmerksam zu machen und für konkrete Verbesserungen zu kämpfen. Wir haben zahlreiche Infotische gemacht, tausende Flyer verteilt, Plakate aufgehängt und Stadtteilzeitungen gedruckt und damit immer wieder auf die Notwendigkeit von kollektiver Organisierung aufmerksam gemacht. Wir haben es damit geschafft, Menschen für bestimmte Probleme und Kämpfe zu mobilisieren, vereinzelt Mitstreiter:innen gewonnen und organisiert und mit dieser Arbeit kleine Erfolge erzielt.

Aus einer revolutionären Perspektive, die sich nicht mit einzelnen Verbesserungen zufrieden gibt und auf eine kontinuierliche Organisierung der betroffenen Menschen selbst abzielt, können diese Erfolge nur erste Schritte sein für den Aufbau einer wirklichen sozialen und organisierten Bewegung von unten.

Wenn es unser erklärtes Ziel ist, eine Bewegung von unten aufzubauen im Sinne einer Macht von unten oder populären Macht, dann müssen wir resümieren, dass wir es bisher nur in geringem Masse geschafft haben, Menschen kontinuierlich zu organisieren. Also mehr Menschen aus dem Stadtteil fest in unsere Strukturen einzubinden, um neben dem Kampf gegen Alltagsprobleme auch gemeinsame Prozesse politischer Bildung zu ermöglichen und die Menschen selbst zu Träger:innen dieser Strukturen zu machen. Der Grossteil der organisatorischen und strategischen Arbeit wird in den Basisstrukturen nach wie vor von einer Kerngruppe linker Aktivist:innen getragen. Die Beteiligung von Nachbar*innen und Menschen aus dem Stadtteil bleibt dabei sehr abhängig von Konjunkturen bestimmter sozialer Probleme – im Moment in vielen Initiativen das Thema Miete und Wohnen. Die Frage, wie wir Menschen über solche einzelnen Themen und Kämpfe hinweg dauerhaft in unsere Strukturen einbinden, bleibt daher nach wie vor offen.

Es gibt sicher unterschiedliche Gründe, warum die Einbindung von Menschen aus dem Stadtteil in die Strukturen der Basisprojekte schwierig sind. Warum es uns bislang nicht im grossen Stil gelingt, Menschen über einzelne soziale Kämpfe oder Aktivitäten längerfristig zu organisieren. Dazu zählen aus unserer Sicht zum einen objektive Bedingungen wie

a) fehlende zeitliche Kapazitäten aufgrund von hoher Alltagsbelastung durch prekäre Lebensverhältnisse,
b) fehlende Erfahrung mit kollektiven Organisierungsansätzen,
c) Dominanz individueller rechtlicher Beratung als Lösungsansatz,
d) fehlende Erfahrung unsererseits mit dem Führen erfolgreicher kollektiver Kämpfe in unterschiedlichsten Bereichen,
e) ein nicht existierender Diskurs über eine gesamgesellschaftliche Perspektive von Veränderung und
f) massive Präsenz des Staates und sozialarbeiterischen Institutionen in den Stadtteilen.

Eine tiefere Betrachtung der objektiven Hindernisse, verbunden mit der Frage, was wir daraus für die Ausgestaltung unserer Strukturen lernen können, halten wir für äusserst wichtig. Im vorliegenden Text wollen wir jedoch den Fokus auf diejenigen Gründe legen, die unserer Meinung nach im bisherigen Verständnis von Basisarbeit und deren Ausgestaltung selbst liegen. Nach drei bis vier Jahren Erfahrung im Stadtteil und intensiven Reflektionen und Diskussionen unserer Praxis haben wir uns die Frage gestellt, inwiefern der Aufbau unserer Basisorganisierungen in den Stadtteilen überhaupt auf die langfristige Organisierung von Menschen und eine Perspektive über den eigenen Stadtteil hinaus angelegt wurden. Was bedeutet Basisarbeit also für uns, und welche Rolle spielt darin Organisierung?

Wir denken, dass für unser Ziel einer Gesellschaftsveränderung von unten die aktuelle Praxis nicht ausreicht. Wir mobilisieren Menschen anhand sozialer Probleme, aber am Ende geht es darum, viele Menschen zu organisieren und zu bewegen, um eine andere Gesellschaft zu schaffen. Wenn wir es nicht schaffen, die bisherigen Erfolge in einzelnen Themen für eine weitergehende Organisierung zu nutzen, werden wir früher oder später in einer erneuten Sackgasse landen. Die einzelnen sozialen Kämpfe und eine längerfristige Organisierung sind ein dialektischer Prozess, also ein Prozess, in dem sich die einzelnen Kämpfe und die langfristige Organisierung gegenseitig beeinflussen und verstärken.

Organisierung wird zu einem Prozess von Erfolgen und Misserfolgen, in dem Kämpfe für konkrete Verbesserungen reflektiert und politisch eingeordnet werden, zu einer Schule des Widerstandes und einem kontinuierlichen Lernprozess für die Beteiligten. Ausgehend von der Analyse unserer Erfahrungen haben wir deshalb begonnen, zwischen unterschiedlichen Formen der Basisarbeit zu unterscheiden. Wir sprechen inzwischen von „einfacher Basisarbeit“ und „komplexer Basisarbeit“, wobei letztere auf die Schaffung einer organisierten sozialen Bewegung abzielt. Letztere verstehen wir als eine Weiterentwicklung unserer bisherigen vereinzelten Organisierungsprojekte und unserer bisherigen Basisarbeit.

Wir denken, dass es notwendig ist unsere Praxis und Perspektive über die Bearbeitung konkreter Themen/Kämpfe und die lokale Begrenzung hinaus zu erweitern, hin zum Aufbau einer organisierten Stadtteilbasisbewegung mit klaren politischen Ansätzen und Zielen. Wir müssen raus aus unseren kleinen Gruppen oder kleinen Organizing-Projekten (ohne diese dadurch zu verlassen). Wir sollten schon durch die Organisierungsform und -erfahrung der Basisstrukturen eine Utopie entwickeln und leben, die den einzelnen Kämpfen an der Basis durch eine gemeinsame Klammer eine Perspektive in Richtung einer sozialistischen Gesellschaft von unten gibt.7

Bisher kann die Praxis der meisten Gruppen – einschliesslich unserer selbst – nur einen Teil dieses Ziels erreichen: Es geht nicht nur um gute Kommunikationsformen wie Flyer verteilen oder Gespräche führen mit dem Ziel der Sensibilisierung der Menschen, sondern darum, eine komplexe Organisierungsform zu entwickeln, die nicht nur in einem einzelnen Stadtteil stattfindet, und die in der Lage ist einen gesellschaftlichen Wandel anzustossen und zu tragen.

Allgemeine Erklärung zum Begriff Basisarbeit

„Der allgemeine Diskurs ist in der Lage, das Volksbewusstsein zu sensibilisieren, aber er ist nicht in der Lage, das Volk zu mobilisieren. Die Menschen beginnen ihre Mobilisierung nicht mit generischen, juristischen Bannern, die dem progressiven Bewusstsein der Mittelklasse eigen sind“ (Frei Betto)8

Bevor wir erklären, was wir unter den Begriffen einfache und komplexe Basisarbeit verstehen, wollen wir uns kurz dem Begriff der Basisarbeit an sich widmen. Über den Begriff der Basisarbeit wurde in den letzten Jahren innerhalb der radikalen Linken viel gesprochen. Das ist erstmal positiv. Trotzdem birgt die vielfache Verwendung des Begriffs die Gefahr, dass dieser inhaltlich leer wird und wichtige Voraussetzungen eines Konzeptes der revolutionären Basisarbeit dabei verloren gehen9.

Allgemein formuliert, fokussiert sich Basisarbeit auf eine Verbindung von Menschen. Sie verfolgt das Ziel, Menschen zusammen zu bringen, um gemeinsam gegen oder für etwas zu kämpfen. Diesen Zusammenschluss von Menschen mit einem gemeinsamen Ziel kann man als Basis bezeichnen. Diese Basis ist der sich artikulierende Teil einer verstreuten „Masse“, in unserem Fall der Unterdrückten oder der Arbeiter:innenklasse als Ganzes. Die Basis ist der Teil, der sich entschieden hat, sich zu bewegen und einen Kampf zu führen, um die eigene Situation und die anderer zu verbessern. Auf diese Weise betrachtet ist Basisarbeit eine „Massenorganisierungsarbeit“, weil sie die Artikulation und Mobilisierung eines Teiles der „Masse“ für einen bestimmten Kampf anstrebt.

Aus unseren Erfahrungen und Reflexionen können wir über zwei Ebenen der Basisarbeit sprechen. Zwei Ebenen, die zusammengehören, aber einen unterschiedlichen Fokus verlangen und welche sich im Moment auf eine bestimmte Art und Weise aus der Praxis verschiedener Gruppen erkennen lassen. Aus diesem Grund scheint es uns wichtig, dass wir die unterschiedlichen Ebenen der Basisarbeit mit ihrem jeweiligen Bezug zu einem Organisierungsprozess vorstellen und darauf eingehen, welche Probleme eine „einfache Form“ der Basisarbeit mit sich bringt.

Einfache Basisarbeit und Solidarische Stadtteilgruppe

„Die Form ist nicht blosse Verpackung des Inhalts,
Sie ist selbst die Art, in der bearbeitet wird“
(Frigga Haug)

Mit der Zuwendung zu Basisarbeit schien ein Weg gefunden, um die Trennung zwischen linker Szene und der Gesellschafft überwinden zu können. Ein Weg raus aus der Szene, und damit die Lösung für die Probleme der vorherigen Praxis. So sind mit der Hoffnung auf einen Aufbau selbstorganisierter Strukturen in Stadtteilen viele Stadtteilgruppen entstanden. Die Frage nach der Form der Organisierung blieb dabei aber unbeantwortet.

Viele der Gruppen, die ihre Praxis mit dem Begriff der Basisarbeit beschreiben (oder zumindest Teile ihrer Praxis), sind im Stadtteil aktiv und entwickeln dort ihre Arbeit. Mit konkreten Zielen – wie beispielsweise dem Kampf gegen hohe Mietpreise – organisieren sie Versammlungstreffen, verteilen Flyer auf der Strasse, machen Infotische, gehen von Tür zu Tür, usw. Dadurch versuchen sie, Alltagsthemen zu politisieren, solidarische und kämpferische Orte zu schaffen, so dass sich die Leute z.B. gegen hohe Mietpreise aktiv mobilisieren und organisieren.

Die meisten der Gruppen nehmen eine alltägliche (ökonomische, problematische) Notwendigkeit der Menschen als Ausgangspunkt ihrer Basisarbeit. Nach dem Erreichen des Ziels oder nach dem Scheitern desselben oder währenddessen kommt es zu einer Situation, in der einige wenige Leute für die weitere Arbeit in den Basisgruppen gewonnen werden können. Egal, ob es um Mietpreise oder Gesundheit geht, die Arbeitsweise der Stadtteilgruppen bleibt gleich. In dieser Art von Organisation geht es darum, die Leute aufgrund eines bestimmten Problems temporär zu mobilisieren, um ihre Forderungen zu erreichen.

In diesem Sinn hat die darin verwirklichte Basisarbeit keine Absicht (oder keinen Erfolg), die Menschen auf eine kontinuierliche und problemübergreifende Weise zu organisieren. Ihr Funktionieren hat eine „einfache“ Logik: Menschen zu verbinden, sie zu mobilisieren, um für einzelne Forderungen aktiv zu werden. Dieses Funktionieren beeinflusst die Art und Weise, wie die Basisarbeit von den Gruppen gemacht wird. Wir bezeichnen diese Art als einfache Basisarbeit, weil es über die konkreten Kampffelder oder Treffen hinaus kein konkretes Modell für eine längerfristige und politische Organisierung gibt, die sowohl über einzelne Themenfelder als auch über den eigenen Stadtteil hinausreicht.10

Selbst wenn ähnliche Kämpfe gleichzeitig in mehreren Stadtteilen stattfinden, sind die Personen aus den unterschiedlichen Stadtteilen nicht in einer gemeinsamen Struktur organisiert. Dabei ist vor allem problematisch, dass die Gruppen häufig die Rolle einer sozialen Konsolidierungsorganisation statt einer kämpferisch organisierten sozialen Bewegung spielen, also durch den Kampf für einzelne Verbesserungen die sozialen Verhältnisse insgesamt eher stabilisieren statt Stück für Stück die eigene Organisierung weiter auszubauen.

So gehen die Kämpfe nicht über das Erstreiten bestimmter Verbesserungen hinaus, und die beteiligten Menschen bleiben nicht Teil der Struktur. Ein weiteres Problem ist die fehlende gemeinsame politische Grundlage und Perspektive der verschiedenen Initiativgruppen. So kann einfache Basisarbeit sowohl von parteinahen Gruppen, Sozialarbeiter:innen oder unabhängigen Basisgruppen gemacht werden.

Komplexe Form der Basisarbeit und Organisierungsfrage

„Nur wenn die Inseln zusammenkommen,
kann ein neuer Kontinent entstehen“11

Wir wollen mit diesem Text eine weitere Ebene der Basisarbeit einführen. Eine Ebene, die konkret auf die Frage der langfristigen und überregionalen Organisierung abzielt. Wir nennen dies die Ebene der komplexen Basisarbeit.

Die Idee komplexer Basisarbeit soll deutlich(er) machen, was wir mit unserer Basisarbeit erreichen wollen: Es geht im Ansatz revolutionärer Basisarbeit nicht nur darum, einzelne Kämpfe zu gewinnen, sondern eine politische Arbeit und Organisierung an der Basis der Gesellschaft zu entwickeln, die wir als kontinuierlichen „Machtaufbau von unten“ (populäre Macht) bezeichnen können12. Dazu braucht es unserer Meinung nach eine gemeinsame organisatorische Verbindung unterschiedlicher Basisgruppen oder Stadtteilprojekte. Durch so eine gemeinsame Struktur können sich Menschen als Teil eines gesellschaftlichen Prozesses verstehen. Sie können Selbstermächtigung entwickeln, die Kraft solidarischen Handelns erfahren und Prozesse politischer Bildung eingehen. Basisarbeit im Sinne von konkreten Kämpfen, Kommunikation im Stadtteil, Orten des Zusammenkommens usw. ist dabei ein Mittel, ein Werkzeug, um diese Prozesse anzustossen und aufrecht zu erhalten.

Im Folgenden wollen wir drei Säulen oder die drei Seelen von Basisarbeit beschreiben, die unserer Meinung nach Komplexe Basisarbeit charakterisieren:

1) Schaffung einer organisierten Basis,
2) Arbeit an und mit der Basis und
3) eine intersektionale Haltung und Praxis.

1) Mit Schaffung einer organisierten Basis meinen wir die erforderliche Arbeit zum Aufbau einer kontinuierlichen Basisorganisierung bzw. einer organisierten sozialen Bewegung.

Drei Aspekte halten wir dabei für wichtig:

Erstens der direkte Kontakt auf der Strasse, von Tür zu Tür, usw. Dabei geht es um die Art und Weise, wie wir auftreten, wie wir mit den Leuten in Kontakt treten. Diese vornehmlich kommunikative Arbeit spielt eine wesentliche Rolle bei der Schaffung einer Basis und sie folgt bestimmten Schritten. Bei diesem Aspekt spielt die individuelle Ebene, der direkte Eins-zu-Eins-Kontakt, eine entscheidende Rolle.

Zweitens die Angebote bzw. die konkreten Kampfmöglichkeiten und Erfolge: Basisarbeit muss thematisch an die Bedürfnisse und Interessen der Menschen anknüpfen und eine konkrete Verbesserung in Aussicht stellen. Ohne dass Menschen „etwas davon haben“ werden sie – in den meisten Fällen – auch mit der besten Kommunikationsstrategie nicht aktiv werden und nicht das Interesse entwickeln, sich zu organisieren. Welche sozialen oder politischen Themen Ausgangspunkt für eine kontinuierliche Organisierung sein können, ist eine wichtige Frage und müsste von den unterschiedlichen Gruppen und anhand der jeweiligen lokalen Gegebenheiten weiter diskutiert werden.13

Drittens Aufbau von verbindlichen Strukturen, die Stadtteil- und Städte übergreifend miteinander verbunden sind: Durch unsere bisherigen Erfahrungen gehen wir davon aus, dass es für eine Perspektive in Richtung Gesellschaftsveränderung nicht ausreicht, lose Mieter:innentreffen oder unverbindliche Orte der Begegnung zu schaffen. Wir halten es vielmehr für notwendig, verbindliche Strukturen aufzubauen, die u.a. gekennzeichnet sind durch gemeinsame Versammlungen, (Aus-)bildungsstrukturen für unterschiedliche Ebenen der Beteiligung, gemeinsame politische Übereinkünfte, verbindliche Mitgliedschaften, etc. Was wir wollen ist eine Basisorganisation, eine gesellschaftlich relevante Macht von unten.

Diese lässt sich aber nicht nur anhand eines „Projektes“ in einem Stadtteil schaffen, sondern bedarf der kontinuierlichen Entwicklung einer gemeinsamen stadtteil- und städteübergreifenden Struktur. Dieser Aspekt muss möglichst bald Teil der lokalen Basisarbeit werden und sich auch in der politischen Bildungsarbeit für neue Mitglieder wiederfinden, durch die z.B. die Notwendigkeit einer solchen Bewegung für die Verbesserung der eigenen Lebenssituation vermittelt wird. Mit „Schaffung einer Basis“ meinen wir also nicht nur, Menschen aus dem Stadtteil in die jeweilige Basisgruppe zu holen, sondern nach und nach Verbindungen zwischen den Menschen und den verschiedenen Stadtteilgruppen aufzubauen, übergreifende Kommissionen zu schaffen für verschiedene Aufgaben, politische Übereinkünfte zu entwickeln, usw. Es geht nicht nur darum, Menschen anhand gemeinsamer Themen zusammenzubringen, sondern sie als Teil einer organisierten sozialen Bewegung zu organisieren.

2) Wenn wir über Arbeit an der Basis sprechen, meinen wir damit einen kontinuierlichen  Politisierungs- und Lernprozess, in dem mittels fortlaufender politischer Bildung eine ständige Auseinandersetzung innerhalb der geschaffenen Basis stattfindet. Denn um zu vermeiden, dass wir am Ende nur die bessere Sozialarbeit machen oder „nur“ dazu beitragen, Probleme durch vereinzelte Kämpfe zu lösen, sollte Basisarbeit Politisierungsprozesse ermöglichen. Unsere Erfahrung hat auch hier gezeigt, dass solche Prozesse nicht oder nur sehr wenig stattfinden, wenn es keine kontinuierlichen und verbindlichen gemeinsamen Strukturen gibt.

Wir sind zwar in der Lage immer wieder viele Menschen zusammen zu bringen und vereinzelt auch konkrete Kämpfe (momentan v.a. Mietkämpfe) zu gewinnen. Aber der Kontakt zu den Beteiligten geht schnell wieder verloren, es kommt zu keiner Verbindung von Kämpfen oder tiefergehenden Veränderungen. So haben wir z.B. mit vielen Mieter:innen zusammen gegen schlechte Wohnverhältnisse oder hohe Betriebskosten gekämpft und unterschiedlichste Leute zusammen gebracht, trotzdem wählen (als ein Beispiel) die Beteiligten auch nach der kollektiven Kampferfahrung weiterhin AfD, AKP etc. Das Führen kollektiver sozialer Kämpfe, das Erfahren von Solidarität und das Bereitstellen von Räumen der Begegnung ist ein wichtiger Teil von Basisarbeit, reicht aber alleine nicht aus, um darüber hinausgehende Prozesse der Politisierung und Organisierung anstossen zu können.

Man könnte sagen, dieser zweite Aspekt der Basisarbeit besteht darin, durch die geschaffenen Organisierungsstrukturen Menschen dahin zu bringen, das Niveau des individualistischen, rassistischen und sexistischen Alltagslebens zu überwinden. Gleichzeitig geht es in diesem Prozess darum, Menschen zu motivieren, selbst Aktivist:innen, Initiativkräfte und Träger:innen der Weiterentwicklung des Kampfes und der Organisierung zu werden. Hierfür reicht es nicht aus, die Vermittlung von Wissen zufälligen Eins-zu-Eins-Gesprächen zu überlassen. Vielmehr ist es unserer Ansicht nach notwendig, von Beginn an Strukturen zu schaffen, die darauf abzielen, Wissen und Erfahrungen weiter zu geben, Leute einzubinden, die Geschichte, Ziele und Herangehensweisen der Basisorganisation zu vermitteln, die politischen Grundlagen, etc.

Neben der politischen Bildung im klassischen Sinn im Rahmen von thematischen Veranstaltungen, Diskussionen oder Schulungen zu bestimmten Themen findet der Politisierungs- und Lernprozess jedoch auch über die ständigen Erlebnisse und Erfahrungen innerhalb der Organisierungsstrukturen selbst statt. Politische Bildung bedeutet hier also sowohl das explizite Studium als auch das Erlernen politischer Inhalte und Methoden aus der Praxis selbst, die durch basisdemokratische Räume wie Kommissionen, Stadtteilversammlungen und neue Formen von Entscheidungsfindungen und Partizipation stattfinden. Teil des Lernprozesses ist also auch, wie Versammlungen, Demonstrationen und Aktionen organisiert werden, wie gemeinsam Entscheidungen getroffen, mit Konflikten umgegangen, Reden gehalten werden etc.

Um Politisierungsmöglichkeiten zu schaffen, braucht es nicht zuletzt eine politische Vision, vor deren Hintergrund politische Bildungsarbeit stattfinden kann. Eine politische Verortung und Vision spielen auch eine grosse Rolle, um über die Thematisierung von Problemen hinaus, gesamtgesellschaftliche Perspektiven aufzeigen zu können und damit der lähmenden Ohnmacht und verbreiteten Alternativlosigkeit etwas entgegen zu setzen.

3) Mit einer intersektionalen Haltung und Praxis meinen wir zweierlei:

Erstens eine Haltung auf Augenhöhe. Das bedeutet eine praktische Herangehensweise, die auf die Beziehung zwischen den Mitgliedern der Basisorganisation (und zwischen Initiativkräften und Menschen im Stadtteil) abzielt. Sie umfasst z.B. den Glauben an die kollektive Stärke von Menschen, ihre Weisheit, ihre Fähigkeit und ihr Urteilsvermögen um emanzipatorische Veränderungen erreichen zu können; das Wissen, wie man der anderen Person aktiv zuhört und geduldig mit der Zeit und den Anforderungen der Leute zu sein; Basisarbeit als Prozess des Lernens und des Lehrens zu begreifen und Hoffnungsvolles aufzuzeigen statt immer auf Probleme fokussiert zu sein.

Zweitens, eine intersektionale Praxis. Damit meinen wir eine Praxis, der es gelingt, die Verbindung von Kampfbereichen innerhalb der politischen Ziele und der politischen Übereinkünfte der Stadtteilorganisation zu entwickeln. So sollen die Kämpfe der Mieter:innen nicht unabhängig von den Kämpfen um Verbesserungen im ÖPNV laufen, genauso wenig wie die feministischen Kämpfe nicht unabhängig von den antirassistischen verlaufen sollen. Vielmehr wollen wir die Nachbar:innen und Kämpfer:innen in einer gemeinsamen Organisierung miteinander verbinden und so auch unsere Kämpfe wechselseitig verstärken.

Einfache und komplexe Formen der Basisarbeit sollen in diesem Sinne keinesfalls als gänzlich verschiedene Modelle gegeneinander gestellt werden. Die genannten Aspekte der einfachen Form sind auch weiterhin Teil einer komplexen Form der Basisarbeit. Vielmehr geht es um eine Frage des Fokus bzw. der Perspektive revolutionärer Basisarbeit, vor deren Hintergrund wir einfache und komplexe Formen als unterschiedliche Ebenen eines Organisierungsprozesses verstehen können. Auch eine komplexe Form ist weiterhin auf Diskurspolitik, Kommunikationsmethoden, Mobilisierungen, konkrete Kämpfe gegen Alltagsprobleme der Menschen etc. angewiesen.

Diese finden dann jedoch immer vor dem Hintergrund statt, inwieweit sie dazu beitragen, Menschen dauerhaft in die Organisierung einzubinden bzw. in dieser zu halten. Dafür werden Fragen einer verbindlichen „Mitgliedschaft“, der überregionalen Vernetzung und Organisierung der verschiedenen Basisstrukturen in einer gemeinsamen Struktur, Formen einer kontinuierlichen politischen Bildung, gemeinsame inhaltliche Übereinkünfte, Ziele, Programatik etc. relevant.

Was wollen wir?

„Sie [Sozialdemokratie] kann und darf nicht mit verschränkten Armen fatalistisch auf den Eintritt der „revolutionären Situation“ warten, darauf warten, dass jene spontane Volksbewegung vom Himmel fällt. Im Gegenteil, sie muss, wie immer, der Entwicklung der Dinge vorauseilen, sie zu beschleunigen suchen“ (Rosa Luxemburg)14

Das Ziel, das eine komplexe Form der Basisarbeit verfolgt, ist der Aufbau eines politisch-sozialen Akteurs, der nicht nur in einem Stadtteil existiert, sondern als organisierte soziale Bewegung an vielen Orten. Mit dem vorliegenden Text möchten wir für die Konstruktion einer solchen Organisierungsform plädieren, als eine territoriale Bewegung zwischen mehreren Stadtteilbasisgruppen. Eine organisierte Stadtteilbasisbewegung, deren Territorium der politischen Intervention die Stadtteile sind.

Wir wissen, dass wir in der Bundesrepublik nicht in revolutionären Zeiten leben und eine linke Massenbewegung nicht vom Himmel fallen wird. Unsere Arbeit verstehen wir daher als eine Arbeit des Aufbaus von Strukturen und politischem Bewusstsein. Wir wissen auch, dass die blosse Existenz eines grösseren organisierten Zusammenschlusses (wie eine organisierte Stadtteilbasisbewegung) alleine nicht das Problem lösen wird, ob und wie sich Menschen langfristig und verbindlich in Stadtteilen in der BRD organisieren. Trotzdem müssen wir neben der (Neu-)Ausrichtung unserer Praxis in Zukunft die Frage der Organisierung beantworten. Eine überregionale Organisierung als eine organisierte Stadtteilbasisbewegung – d.h. eine territoriale Bewegung – ist für uns ein entscheidender Schritt in dieser Frage.

Die Organisationsform, die wir anstreben, ist in der traditionellen Unterscheidung weder auf eine reine Organisation der Arbeiter:innen für den ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und die Regierung noch als eine Art der Organisation von Revolutionär:innen beschränkt.15 Wenn wir von einer organisierten sozialen Bewegung sprechen, dann meinen wir weder rein korporative Organisationen wie traditionelle Gewerkschaften, die zunächst nur in einem konkreten Bereich (z.B. Lohnkämpfe, Mieter:innengewerkschaft) arbeiten, noch eine politische Massenpartei oder politische Massenorganisation. Vielmehr ist unser Ziel, eine Organisierungsform aufzubauen, die sowohl gewerkschaftliche Aspekte bzw. Aspekte einer sozialen Bewegung als auch politische Herangehensweisen und eine bestimmte politische Haltung mit einbezieht (und potenziell viele unterschiedliche Aspekte und Bereiche des Lebens umfasst). Dazu gehören sowohl gewerkschaftliche Kampfstrukturen, als auch soziale Aktivitäten und Angebote, die Entwicklung einer gemeinsamen solidarischen Kultur, politische Übereinkünfte und Perspektiven, politische Bildung, ggf. politische Forderungen etc.

Eine solche Organisationsform nimmt also auf einer Ebene die „Rolle einer Gewerkschaft“ ein, in ihrem Inneren entwickelt sie daraus aber mehr. Eine solche territoriale Bewegung kann deshalb nicht auf ein Verständnis von politischen Massenorganisationen beschränkt werden. Das politische Standbein besteht aus bestimmten politischen Übereinkünften und programmatischen Zielen, die sich an einer transformativen Veränderung, ausgehend von der Basis der Gesellschaft, orientieren.

Zudem wird im Vergleich zu rein gewerkschaftlich orientierten Organisationen eine stärkere Gewichtung auf Veränderungsprozesse innerhalb der Bewegung/Organisation selbst gesetzt. So soll die Basisorganisation Funktionen einer präfigurativen Praxis erfüllen – also Prinzipien und Organisationsweisen umsetzen, die in ihrer Form schon auf eine gänzlich andere Organisierung der Gesellschaft verweisen: Basisdemokratie, eine solidarische Kultur, Bekämpfung von Diskriminierung, Prozesse der Selbstorganisierung, der Selbstermächtigung, der politischen Subjektwerdung, der Radikalisierung, der Entwicklung alternativer Strukturen des Zusammenlebens usw. Wir denken, dass diese Form der Organisierung eine Politisierung außerhalb von traditionellen Gewerkschaften oder politischen Gruppen/Organisationen möglich machen und so eine Macht von unten erzeugen kann, um den bestehenden staatlichen und kapitalistischen Strukturen etwas entgegenzusetzen. Beispiele einer solchen territorialen Bewegung können wir in Lateinamerika z.B. beim MST und dem MTST sehen.16

Den Aufbau einer solchen Organisierungsstruktur verstehen wir dabei auch als notwendigen Teil der Vorbereitung auf einen revolutionären Bruch mit der kapitalistischen Gesellschaft. Denn für einen solchen revolutionären Wandel brauchen wir organisierte Strukturen. Wir brauchen ein anderes Modell gesellschaftlicher Organisierung, welches den Aufbau von populärer Macht, Strukturen für eine emanzipatorische Subjektwerdung und eine Politisierung in Richtung eines Sozialismus von unten in ihr Zentrum stellt. Es geht um den Aufbau von Räumen, in denen Menschen punktuell mit dem Ziel einer Revolution verbunden werden. Revolutionäre Basisarbeit begreifen wir vor diesem Hintergrund als Mittel, mit welchem wir eine organisierte soziale Bewegung bzw. eine politisch-soziale überregionale (territoriale) Organisation als strategisches Ziel aufbauen wollen.

Die Entwicklung einer komplexen Form von Basisarbeit, die auf die Schaffung einer organisierten Stadtteilbasisbewegung (Organisierungsstrukturen der Machtausübung von unten bzw. populärer Macht) abzielt, hat damit Voraussetzungen, die nicht alleine und vereinzelt in einem Stadtteil geschaffen werden können17. Wir müssen deshalb anfangen, über unsere lokale Praxis hinauszudenken und Parallelitäten und organisatorische Verbindungen zwischen den einzelnen Basisprojekten entwickeln.

Eine organisierte soziale Bewegung wird nicht einfach aus der Alltagspraxis entstehen, sondern muss bewusst entwickelt werden. Wir denken, dass die Entwicklung einer solchen Bewegung notwendig ist und plädieren deshalb für die Konstruktion einer solchen Organisierungsform im Stadtteilkampf, im Sinne einer organisierten sozialen Bewegung verschiedener Stadtteilbasisgruppen.

#vonunten #nachlinks

Fussnoten:

1 Im Original auf Englisch: „What makes a movement anticapitalist is not always the issue it mobilizes around. What is more important is whether it is able to draw in a wide spectrum of the masses and enable their self-organization, seeking to build a society in which people govern themselves and control their own lives, a possibility that is fundamentally blocked by capitalism” (Asad Haider: Mistaken identity : race and class in the age of Trump. London; Brooklyn, NY: Verso, 2018).

2 Ein unvollständiger Überblick bis 2017 findet sich hier: https://web.archive.org/web/20170827170807/https://www.selbermachen2017.org/deu

3 http://solidarisch-in-groepelingen.de, und bei facebook, Twitter @soli_groepel

4 https://bfsolidarisch.blackblogs.org, und bei facebook, Instagram, Twitter

5 Allgemein bedeutet das eine Bewegung, die eine klassenkämpferische Perspektive hat und deren Ziel ist, einen Bruch mit dem Kapitalismus zu machen.

6 Im Original auf Englisch: „Today we are still challenged to be dissatisfied. Let us be dissatisfied until every man can have food and material necessities for his body, culture and education for his mind, freedom and human dignity for his spirit (…)” (King, Martin Luther, Jr.: Honoring Dr. Du Bois. 1970.

7 Sozialismus von unten oder sozialistische Gesellschaft von unten soll hier als ein Bezug auf eine Art Dach-Begriff verstanden werden. Wir sind der Meinung, dass es nicht reicht, sich auf bestimmte Kategorien, wie Basisdemokratie, direkte Demokratie, solidarische Kultur, Selbstverwaltung, Bekämpfung von Rassismus und Patriarchat, Beseitigung von Diskriminierung, usw. zu beziehen, um zu zeigen, dass wir mit unserem Kampf nach einem Bruch mit dem Kapitalismus streben. Diese Merkmale, allein oder zusammen, bedeuten nicht ein Projekt für eine andere Gesellschaft. Für uns hat Sozialismus von unten oder sozialistische Gesellschaft von unten ausserdem die Bedeutung, dass wir nicht mit dem sogenannten „Realsozialismus“ einverstanden sind. Aber das ist für eine andere Debatte.

8 Im Original auf Portugiesisch: „O discurso genérico é capaz de sensibilizar a consciência popular, mas não é capaz de mobilizar o povo. O povo não inicia sua mobilização por bandeiras genéricas, de caráter jurídico, própras à consciência progressista da classe média” (Frei Betto: O que é COMUNIDADE ECLESIAL DE BASE.)

9 Ansätze wie das Community Organizing haben in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren auch in der deutschen Linken an Popularität gewonnen und es gibt sicher vieles aus den Erfahrungen von Organizing-Projekten und -Methoden zu lernen. Aber ähnlich wie der Begriff „Basisarbeit“ ist das, was man unter (Community) Organizing versteht, ein Ansatz, der von unterschiedlichen Akteur*innen benutzt und rezipiert wird. Die Übertragung von einem Konzept wie „Community Organizing“ auf die Frage nach einer revolutionären Strategie bringt uns zu einem Problem: Wenn wir eine Gesellschaftsveränderung von unten anstreben, brauchen wir mehr als eine „Community“. Wir brauchen über konkretes Organizing hinaus eine weitergehende politische Perspektive und mehr als Methoden, um eine revolutionäre Strategie zu entwickeln.

10 Wenn wir genauer hinsehen, könnten wir auch die einfache Basisarbeit nochmal in zwei Kategorien unterteilen, nämlich solche Gruppen, die Basisarbeit fast ausschliesslich als Diskurspolitik im Stadtteil verstehen und solche, die darüber hinaus Organisierungsprozesse anstossen, die jedoch – wie bereits beschrieben – meist auf einen sozialen Kampf und den Stadtteil oder die Stadt begrenzt sind.

11 Aus irgendeiner linken argentinischen Zeitung der 60er, unauffindbar 😉

12 Wir denken dabei bewusst an einen Begriff von Macht. Durch den gesellschaftlichen Diskurs scheint es so, dass nur die herrschende Klasse in der Lage ist, mit Macht zu handeln. Macht ist etwas, das von oben stattfindet, ihre Macht ist demokratisch legitimiert, sie machen die Gesetze, sie besitzen das Gewaltmonopol. Auch in einem Diskurs innerhalb der radikalen Linken, wird Macht häufig tabuisiert und als böse oder gefährlich betrachtet. Diese Angst vor der Frage, was es heissen könnte, die eigene Macht auszubauen, macht es den Herrschenden möglich, ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten. Ein Begriff einer „Macht von unten“ (populäre Macht) hat dabei eine gänzlich andere Funktionsweise als ihre Macht von oben, ihre Herrschaft. Macht von unten muss aufgebaut und organisiert werden, sie braucht konkrete und komplexe Organisierungsstrukturen, in der Menschen langfristig miteinander verbunden bleiben und sich kollektiv bewegen können. All dies wird vor der Frage entwickelt: Wie regieren wir von unten? Wie werden wir uns nach einer Revolution von unten regieren, wenn wir nicht schon heute lernen können, das zu machen?

13 Bei Solidarisch in Gröpelingen hat diese Frage vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen der letzten Jahre zu folgenden Beobachtungen und Entwicklungen geführt: Viele Menschen greifen nach wie vor auf individuelle Rechtsberatung zurück, um ihre Probleme zu lösen. Es gibt einen hohen und kontinuierlichen Bedarf beim Verständnis behördlicher Briefe. Gleichzeitig erfordern auch viele der kollektiven Kämpfe begleitend individuelle rechtliche Beratung. Rechtliche Beratung wird jedoch fast durchweg von sozialstaatlichen Akteur*innen angeboten, die keinerlei Interesse an der Entstehung kollektiver Kämpfe und deren Radikalisierung haben und durch den individualisierenden Ansatz mit dazu beitragen, die Dynamik aus möglichen Kristallisationspunkten für Kämpfe zu nehmen. Ausgehend von dieser Analyse haben wir entschieden, bei Solidarisch in Gröpelingen eine rechtliche Beratung in unterschiedlichen Bereichen aufzubauen, diese aber als Ausgangspunkt für eine darüber hinausgehende Organisierung zu begreifen und mit kollektiven Momenten zu verbinden. Dazu zählen eine regelmässige Vollversammlung, ein gemeinsames Kommunikationsmedium, die Einbindung in weitere Aktivitäten, regelmässige Aktionen und über die individuelle Beratung hinausreichende direkte Aktionen zur Durchsetzung von bestimmten Rechten/Forderungen etc. Ob dieser Ansatz erfolgreich sein kann, wird sich in den nächsten Jahren herausstellen.

14 Luxemburg, Rosa: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. 1906

15 Einer der Unterschiede von einer organisierten sozialen Bewegung zu einer „Organisation der Revolutionär*innen“ liegt darin, dass meist nicht eine geteilte und sehr enge politische/ideologische Übereinkunft die Grundlage der Organisierung bildet, sondern die gemeinsame Betroffenheit von und der Kampf gegen bestimmte soziale Probleme.

16 Diese beiden brasilianischen Bewegungen, die Bewegung der Landarbeiter*innen ohne Boden (MST) und die Bewegung der obdachlosen Arbeiter*innen (MTST), sind Beispiele von lateinamerikanischen organisierten sozialen Bewegungen bzw. territorialen Bewegungen, in den ihre gesamten Mitglieder (die Basis) durch jahrelange gemeinsame Arbeit verbunden werden und einen Politisierungsprozess erleben. Sie haben eine bestimmte Organisationsform, die schon Aspekte eines gänzlich anderen, eines basisdemokratischen und solidarischen gesellschaftlichen Organisierungsmodells in sich tragen. Sowohl die MST als auch die MTST sind so darauf angelegt, immer mehr Lebensbereiche ihrer Mitglieder zu organisieren. Hier sehen wir einen Unterschied zu Protestbewegungen, die sich als „Ein-Punkt-Bewegungen“ vor allem um ein Thema organisieren und oft auf Mobilisierungen ausgerichtet bleiben. Organisierte soziale Bewegungen entwickeln neben dem allgemeinen Aspekt der Organisierung eine bestimmte Struktur und politische Übereinkünfte, die das Ziel der Überwindung des kapitalistischen Systems beinhalten. Wichtig und bedeutungsvoll an Beispielen dieser beiden organisierten sozialen Bewegungen ist, dass sie oft von Gruppen bestimmter Initiativkräfte geschaffen wurden. Das Beispiel von MTST kann uns gut zeigen, wie das funktioniert. Ursprünglich ist die MTST ein Teil der MST gewesen. Die Entstehung der MTST basierte auf bewussten Aktionen für das Wachstum der MST in den Städten. Wenn wir über Beispiele wie den MST und MTST sprechen, bedeutet das nicht, dass wir diese organisierten sozialen Bewegungen ohne Problem bezüglich ihrer Praxis und ihren politischen Übereinkünften sehen. Wir wollen nicht einfach eine Bewegung „genau wie die MST/MTST“ hier in Deutschland aufbauen. Das ist nicht das, was wir vorschlagen. Wir wollen das Beispiel beider Bewegungen nutzen, um über etwas Konkretes zu reden.

17 Trotz der vielen Diskussionen um revolutionäre Basisarbeit in den letzten Jahren ist es auffällig, wie wenig in den vielen Überlegungen von Stadtteilinitiativen in Richtung einer überregionalen Vernetzung, Organisierung und dem Aufbau einer sozialen Bewegung gedacht wird. Viele Gruppen bleiben bei den Problemen „ihrer“ Praxis stehen.